Schönheit und Trauer.
Die Antizipation des Blicks.
Tokyo 1999

Richard Schindler

In Tokyo ist alles schöne Abbildung. Vor den Türen der Restaurants gibt es perfekte Plastikrekonstruktionen der Menüs, die drinnen serviert werden. Selbst Schleifen um Geschenkpakete sind nicht wirklich, sondern auf's Papier gedruckt. Was aber nicht schön ist, wird schneller als sonstwo in der Welt beiseite geräumt. Straßenmüll wird beseitigt im Augenblick seines Erscheinens. An zahlreichen Laternenpfählen hängen Besen und Kehrschaufel. Straßen und Subwaystationen in Tokyo, täglich von Millionen Menschen benutzt, sehen aus wie aus dem Ei gepellt. Keine Graffiti, keine einzige Kugelschreiberlinie, kein Filzstiftgekritzel an den Wänden der Untergrundbahn. Und auf den dunkelroten, Bezügen der Sitzbänke kein einziger Fleck.

Die Ästhetik der Sauberkeit kennt keine Grenzen. Vor dem Essen werden heiße Tücher zum Reinigen der Hände gereicht und für den nächsten Benutzer der Toilette wird das Klopapier hübsch zum Dreieck gefaltet.

Die Verpackungskunst der Japaner ist nur die berühmte Variante der Allgegenwart des Blicks. Alles wird als Bild wahrgenommen - vom Standpunkt des anderen. Tokyo ist die Antizipation des Blicks. An Brückenpfeilern sah ich das Werbeplakat eines Unternehmens. Es besteht aus der immergrünen Abbildung eines Efeugewächses. An einem Bauzaun entschuldigt sich die Baufirma mit Abbildungen von Büschen und Bäumen für deren Fehlen - man sei gerade mit dem Umbau beschäftigt. Das Labyrinth der City macht es selbst Taxifahrern schwer, einen Bestimmungsort zu finden. Adressangaben sind notwendig mit einer kleinen Zeichnung versehen. Nichts geht ohne Abbild.

Die Menschen zeigen sich so, wie sie glauben, daß andere sie gerne sehen, und bieten ein angenehmes Bild. In den Stadtteilen Shibuya und Shinjuku sind tausende junger Menschen auf der Straße, auf Plateausohlen und mit Handy ausgerüstet. Um für ebenso viele Augenpaare sichtbar zu sein? Hier gibt es haufenweise Bildautomaten, von denen man sein Konterfei ausdrucken lassen kann: in jeder Farbe, mit beliebigem Bildhintergrund und Text - die gelungensten Ergebnisse werden landesweit in einer Jugendzeitschrift veröffentlicht. In den Kaufhäusern stehen am Morgen die Verkäuferinnen in Paradestellung vor den Theken und begrüßen die Vorübergehenden, mit Verbeugung und freundlichem Lächeln. Auf den Straßen begegnen Gruppen von Männern und Frauen. Sie haben die Schuluniform gegen die Einheitstracht der Unternehmen ausgetauscht: dunkle Anzüge, dunkle Kostüme, weiße Hemden und Blusen. Das Bild erinnert an Konfirmanden oder an die herausgeputzten Bewerber um eine Arbeitsstelle - alle unterwegs zu einem permanenten Vorstellungsgespräch, alle auf der Bühne für den Blick des anderen.

Natürlich funktioniert auch hier die Mode nicht anders als bei uns, aber dennoch ist die Blickrichtung eine andere. Es geht nicht um die Hervorhebung einer Individualität, sondern um das Wohlgefallen im Auge des anderen. In Japan sind Orangen, Melonen, Äpfel einzeln verpackt: immer gleich, aber jede für sich. Macht der einheitliche Rahmen sie ähnlicher - oder hebt er ihre Besonderheit hervor?

In billigen Fernsehsendungen, den meisten, wird gelacht und gealbert als gäbe es nichts anderes auf der Welt als kicherndes Vergnügen. Man soll sehen, wie lustig das Leben ist. Zugleich ist überall die tödliche Gefahr sichtbar. Auf den Schränken im Goethe-Institut liegen, wie in anderen Gebäuden auch, Schutzhelme und Taschenlampen für den Fall aller Fälle bereit. An zahllosen Fenstern öffentlicher Gebäude machen rote, auf der Spitze stehende Dreiecke kenntlich, wo ein Notausstieg ist. Dort hängt eine Strickleiter, die man hinauswerfen kann, um an ihr hinunter zu klettern, wenn ein Erdbeben die Flucht erzwingt. Der Ausgang zum Leben hat die Form eines Schamdreiecks.

Das Blaulicht der Polizei und der Rettungsfahrzeuge ist rot. Rot bedeutet, wie an der Ampel: Halt, und zwar für den, der es sieht. Das blitzende Rotlicht ist vom anderen her gesehen, während das Blaulicht bei uns, vom Fahrzeug her gedacht ist: Platz da, ICH komme.

Der Friedhof, den ich sah, ist ein steinernes Gebirge. Über quadratischen Erdlöchern, kostbare Steinquader zu pyramidenähnlichen Grabstelen getürmt, kein Rasen, kein Grün, nirgends. Auch die Wege sind gepflastert. Das Jenseitige ist im Stein gebunkert. Und all das, was wie Müll daran erinnern könnte, gibt es nicht. An Straßenbegrenzungen wie Zäunen, sind leere Getränkedosen zu sehen, sorgfältig und geschickt mit Draht befestigt und mit etwas Wasser gefüllt - selbstgebastelte öffentliche Aschenbecher. Und sie werden benutzt - ich wage nicht eine Kippe fallen zu lassen. In Tempelbezirken kann man Lose kaufen. Wer ein schlechtes gezogen hat, knüpft es am Wegrand achtsam an einen Zeig. Wegwerfen gilt nicht. Es wird ein Bild gemacht.

Auch in Europa werden ausgegrenzte Bezirke, wie die erdigen kleinen Flächen um Straßenbäume, oder wie die Körbe an fremden Fahrrädern, als Mülleimer benutzt. Aber hier habe ich einen dieser riesigen 'nowhere places' unter einer Brücke gesehen, mit Maschendraht und Stacheldraht eingezäunt. Unzählige Bierdosen, Zigarettenschachteln, leere Tüten und Flaschen. Weggeworfenes an seinen Ort gebracht. Wie bei Gefängnissen ist das obere Ende des Zaunes nach innen gebogen. Was jenseits des Zaunes ist, soll nicht herauskommen können. Gleiches war manchen Betrachtern der Zonengrenze in Deutschland aufgefallen. Was als Schutz gegen Eindringlinge aus dem Westen deklariert wurde, konnte an der Konstruktion des Stacheldrahtabschlusses als Gefängnismauer für Ostbewohner erkannt werden.

In Tokyo scheinen Graffiti durch Fahnen ersetzt - sie sind variabel, leicht zu entfernen, wieder verwertbar - perfekt für modische Trends. An der Art und Weise aber, wie kleine Dinge befestigt werden, scheint sich erkennen geben zu wollen, wie unsicher und flüchtig das Dasein hier ist. Nur soll nichts daran erinnern dürfen.

Von was sollen wir absehen, wenn wir die Schönheit der Fassaden und Verpackungen, das Lächeln und die vielen Bilder sehen? Was verbirgt die Ästhetik der Sushis? Beim Hören eines klassischen Konzerts wird ein vorbeifahrendes Sirenengeheul als Störung empfunden und von der Wahrnehmung ausgeblendet. Die Erfahrung hat John Cage dazu geführt eine Musik zu kreieren, die den Hörer nicht zwingt von dem wegzuhören, was in unserem Leben eben auch zu hören ist. Verbirgt die detailverliebte Kunstfertigkeit der Bandagen, mit der Straßenbäume gehalten werden, nicht die gnadenlose Gewalt der vollendeten Form, in die die Natur gezwungen wird?

Die Fragen unterstellen eine Differenz zwischen dem schönen Schein und einem Grauen, das er lächelnd verneint. Notwendig ist das nicht. Das Schöne ist selbst, nach einer Einsicht Rilkes, nur des Schrecklichen Anfang und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht uns zu zerstören. Schönheit ist die Erscheinung des Realen - nicht der Idee - in erträglicher Form. Sie bannt die Gewalt, der man ausgesetzt ist. - Den Kriminalstatistiken gilt die Stadt als die sicherste der Welt.

Die magische Verwandlung, die wir mit dem letzten Schluck aus einer Coladose an diesem Gegenstand vornehmen, indem wir ihn zu Müll machen, hat keine Chance wahrgenommen zu werden. So schnell wie diese Transsubstantiation vor sich geht, so schnell wird das Ergebnis zum Verschwinden gebracht. Aber nirgendwo mit so atemberaubender Eile, wie in Tokyo. Bilder, die Vergänglichkeit unmittelbar erinnern, sind verboten, was sie zum Verschwinden bringt, erwünscht.

Ist es ein Wunder, daß in Japan Freiburg so berühmt ist? Müllbeseitigung und Recyclingverfahren, die nach japanischer Meinung diese Stadt kennzeichnen, scheinen eine Möglichkeit, das eigene, schon vollendete Können, noch zu übertrumpfen.

Dennoch gelingt es einigen dieser bloßen Dinge, auch in Tokyo, vor der eilfertigen Beseitigung verschont zu bleiben. Für kurze Zeit sind sie, an Zäunen, Pfählen oder Masten, geklemmt, gespießt, zu Füßen gelegt - vor der Zerstörung in ein temporäres Bild einer öffentlichen Ausstellung gerettet; sichtbar, wie die roten Dreiecksmarkierungen an den Fenstern, oder die Helme und Taschenlampen auf Schränken und Ablagen. In diesem Bereich des Symbolischen erscheint das gesellschaftlich bekämpfte andere der Schönheit als privat erzeugte ästhetische Form.

Darf man denken, sagen, daß hier ein Begehren sichtbar wird, das kollektiv verdunkelt wird? Denn nichts ist schrecklicher, als die genaue Erfüllung unserer Wünsche. Protect me from what I want (Jenny Holzer). Vielleicht ist der Schock, der Japaner in Europa erfaßt, wenn sie dem Unschönen begegnen, Effekt einer Über-Nähe zum begehrten Objekt. Vielleicht ist das das Geheimnis europareisender Japaner: Man ist dem begehrten Objekt ein wenig näher, nicht weil Freiburg so sauber ist, sondern weil dort deutlich zu sehen ist, was hier übersehen werden kann.

Auch Schlafende und Tote sind Bilder, bemerkte Shakespeare. Tatsächlich, die schlafenden Menschen in den U-Bahnen, wie Marionetten zusammengesunken über geöffneten Büchern, sind Bilder einer umfassenden Erschöpfung. Die offenen Münder atmen kaum, aber die geschlossenen Augen verweigern sich keiner Welt. Hier unter der Erde sind alle gleich (müde). Der Blick des Anderen ist suspendiert und nur den ewig wachen Touristen zeigen sich schamlos schlaffe Körper. Andere Blicke gibt es nicht. Die in den Schlaf Gefallenen verstehen es, eine zehnminütige oder zweistündige Fahrt unter Tage  als erholsame Meditation ohne Bilder zu nutzen - indem sie selbst eines werden. Tokyo ist das Auge, das sich selbst nicht sieht. Nirgendwo sonst ist die Kontingenz des Daseins so sichtbar - und verschwiegen. Und nirgendwo sonst gibt es diese lächelnde Hingabe ins Unvermeidliche wie hier. In Tokyo, nicht in New York, kann man sich selbst in der Zukunft begegnen. Die Menschen in Tokyo haben ihre Lektion gelernt. Sie haben die Bombe im Kopf, Hiroshima im Körper, Schönheit vor Augen.


Der Text ist ein schriftlicher Antwortversuch auf eine Interviewfrage vom 07.05.1999 von Shigeki Furubayashi, Nippon Hoso Kyokai (NHK - Japan Broadcasting Corporation) anlässlich meiner Kunstausstellung in Yokohama und Workshops in Tokio.: Was für einen Eindruck haben Sie durch Ihre Arbeit hier von Tokyo gewonnen? Was ist Ihre Meinung über diese Stadt und ihre Kultur?

Zuerst veröffentlicht in Zeitung zum Sonntag, Februar 2000, Freiburg

in: Schindler, Richard: Bilder sind das Letzte, Jena: IKS Garamond, 2001, ISBN 3-934601-32-4)

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